3 Tage vor dem letzten Morgen
(...)
Regungslos stand Samu dem Tigergreifen gegenüber, während
sein Verstand versuchte, einen Sinn in die Worte des eigenartigen Wesens zu
bringen. Skeptisch sah er dem Traumweiser tief in die geschlitzten Augen und
fasste für sich noch einmal zusammen, was er verstanden hatte.
«Als…», unsicher überlegte er auf der Suche nach der
Bezeichnung, die der Traumweiser für seine Aufgabenbeschreibung gewählt hatte.
«Als Richter hast
du entschieden, dass die Welt, wie sie ist, nicht weiter funktioniert, und dass
sie verändert werden muss.»
Fragend betrachtete er sein Gegenüber und wartete auf eine
Reaktion, die darauf deuten ließ, dass er falsch lag, eher er zögerlich
fortfuhr.
«Als…», wieder stockte er, unsicher, das neuartige Vokabular
richtig zu benutzen.
«Als Fantast kann
ich es schaffen, die Wirklichkeit mit meiner Gedankenwelt zu verschmelzen und
sie nach Belieben zu verändern, was allerdings nur funktioniert, wenn ich
vollkommen konzentriert bin. Dies gelingt mir…», wieder blickte er unsicher zu
Xam «zumindest noch…», er traute sich kaum, weiter zu sprechen, bevor er ein
leichtes Kopfnicken des Adlerhauptes wahrnahm, das ihn in seinen Annahmen
bestätigte, «am leichtesten in meinen Träumen.»
Tief in Gedanken führte Samu den gestreckten Zeigefinger vor
den Mund, als wollte er seine Studenten um Ruhe bitten, um ihn bei seinen
Gedankengängen nicht zu unterbrechen.
«Aber…» sprach er etwas selbstsicherer mit festerer Stimme
gedehnt weiter, «meine Möglichkeiten der Veränderungen sind beschränkt. Wann
immer ich größere, grundlegende oder entscheidende Dinge ändern will, kostet
mich das zum einen sehr viel Kraft», wieder wartete er, bis der Tigergreif
unmerklich nickte, «und zum anderen stehen zwischen mir und tiefgreifenden
Veränderungen, wie du sie wünschst, der konservative Geist der Menschen, der
sich mit ganzer Kraft an die Wirklichkeit, wie er sie kennt, klammert.»
Der Tigergreif öffnete einen Spaltbreit seinen gebogenen
Schnabel, während sein Schwanz aufgeregt von einer Seite zur anderen zuckte.
Fast wirkte es, als wäre er mit den geistigen Fortschritten seines Schützlings
soweit recht zufrieden und wartete nun voller Ungeduld darauf, dass Samu
konsequent nun auch die letzten Schlüsse aus dem zog, was er verstanden hatte.
«Ich alleine», setzte Samu erneut an, «werde die Welt nicht
in dem Maß ändern können, wie du und ich es uns wünschen.»
Lange folgte Samus Blick den zuckenden Bewegungen des
buschigen Schwanzes, während er seine Gedanken ordnete.
«In unserer letzten Begegnung hast du mir gesagt, ich sei ein
Weltenmaler. Ein Fantast.»
Nachdenklich fügte er mehr zu sich selbst als zu seinem
Gegenüber hinzu: «Jede Tanne ist ein Baum. Aber nicht jeder Baum…»
«Du hast mir erklärt, dass es meine Aufgabe wäre, losgelöst
von allen bestehenden Eindrücken in neuen Dimensionen zu denken.»
Samu nahm sich Zeit, die Logik seiner Gedankengänge wieder
und wieder zu überprüfen, bevor er kopfnickend weitersprach.
«Und du sagtest, es sei nicht meine Aufgabe, die Menschen
dazu zu bringen, eine neue Welt zu akzeptieren. Das heißt, das ist…», noch
einmal stockte er, «das ist die Aufgabe…»
Samus Augen weiteten sich voller Erkenntnis.
Stolz blähte Xam seinen mächtigen Brustkorb auf, stieg auf
die Hinterläufe, sodass er Samu um ein gutes Stück überragte und spreizte seine
Schwingen zu voller Spannweite.
Für einen Augenblick verharrte er in dieser heroischen Pose,
eher er inbrünstig Samus angefangenen Satz vollendete: «…der anderen Weltenmaler!»
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